Nachstehend sind die wichtigsten Informationen aus diesem Vortrag, den Jürgen Wagner am 11.04.2022 bei der Offenen Akademie in Gelsenkirchen hielt, zusammengefasst. Der Vortrag behandelt jedoch noch wesentlich mehr; deshalb ist es auf jeden Fall empfehlenswert, ihn vollständig im Video anzusehen.
Die nachstehend abgebildeten Folien wurden teilweise nach dem Vortrag überarbeitet.
Zur Vorgeschichte des Konflikts
Versprechungen bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
Ein ganz wesentlicher Teil der Auseinandersetzung [geht] darum, was der Sowjetunion (…) Anfang der 90er versprochen worden ist (…) im Austausch für die NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlandes. (…) Die NATO sagt, so ein Versprechen sei (…) nie gegeben worden, dass die NATO sich nicht mehr weiter nach Osten erweitern würde.
Das hält aus meiner Warte (…) einer (…) Anschauung des Dokumentenmaterials nicht stand. Spätestens im Dezember 2017 wurden eine Reihe neuer Dokumente veröffentlicht, die allesamt bestätigen (…), dass der Sowjetunion seinerzeit in den Verhandlungen von nahezu jedem westlichen Staats- und Regierungschef eine relativ klare Zusage gegeben wurde, dass es keine NATO-Osterweiterung geben werde. (…)
Was richtig ist: Es gab nie ein schriftlich fixiertes Versprechen und auch keine rechtlich oder völkerrechtlich bindende Zusage (…) und darauf hat sich die NATO dann über die Jahre (…) immer weiter zurückgezogen.
Ich glaube aber schon, dass (…) die späteren vorgenommenen NATO-Erweiterungen aus russischer Sicht durchaus nachvollziehbar als ein klarer Bruch der Zusagen, die damals Anfang der 90er gegeben wurde, empfunden wurden. (ab 04:59)
(…)
Weitere Entwicklung ab 2008
Gleichzeitig hat (…) Russland versucht, auch zu diesem Zeitpunkt [nach 2008] einen Weg heraus aus dem zunehmend eskalativen Verhältnis zu finden und 2009 einen sogenannten euroatlantischen Sicherheitsvertrag vorgelegt. Das war (…) der Versuch, die NATO durch ein neues Sicherheitssystem zu ersetzen, in dem Russland (…) durchaus relevante und substanzielle Mitspracherechte zugekommen wären. Das wurde vom Westen abgelehnt, woraufhin Russland dann die eurasische Wirtschaftsunion gegründet hat (Russland, Kasachstan und Weißrussland). (ab 10:08) (…)
Das Abkommen von Minsk
Der anschließende Bürgerkrieg mündete dann in das sogenannte Abkommen von Minsk am 12. Mai 2015, ausgehandelt und unterzeichnet von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine. Es sah zur Beilegung des Konflikts einen Waffenstillstand vor, den Rückzug schwerer Artillerie, den Abzug aller ausländischen bewaffneten Einheiten und vor allem einen verfassungsrechtlich garantierten Autonomiestatus und Wahlen dessen, was dann als die Volksrepubliken Doneszk und Lugansk bezeichnet wurde. (…)
Die ukrainische Regierung hat dieses Abkommen zu keinem Zeitpunkt akzeptiert und auch die wesentlichsten Elemente, vor allem den Autonomiestatus, nicht ansatzweise umgesetzt und wollte das auch nicht umsetzen. (…) (ab 15:54)
In den Folgejahren [nach 2015] findet dann eine massive Aufrüstung der Ukraine statt: Seitens der USA wurde die ukrainische Armee mit Waffen im Wert von mindestens 2,5 Milliarden aufgerüstet, [seitens] Frankreich [mit] 1,6 Milliarden. (…) (ab 17:02)
Die Entwicklung im Frühjahr 2021 und das Dekret Nr. 117
Im April 2021 (…) wurde relativ bald (…) im Westen über den russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze berichtet.
Worüber allerdings nicht berichtet wurde war das Dekret Nr. 117 vom 24. März 2021 vom ukrainischen Präsident Selenskyj unterzeichnet. Dieses Dekret sieht wörtlich vor, „die vorübergehende Besetzung von Krim und Donbass zu beenden“ und hierfür einen Aktionsplan zu entwickeln. (…) (ab 17:32)
Vor dem Hintergrund kam ich und ich glaube viele andere auch zu einer fatalen Fehleinschätzung, nämlich zu der, dass ich davon ausgegangen bin, dass der russische Truppeneinmarsch vor allem als ein abschreckendes Signal wirken sollte an die ukrainische Regierung, dass eine Offensive gegen die Volksrepubliken in Donbass oder gegen die Krim gar mit massiver militärischer Gewalt beantwortet werden würde. Heute wissen wir, dass das eine komplett falsche Einschätzung war und dass die russischen Pläne offensichtlich deutlich darüber hinausgingen. (…) (ab 18:03)
Russische Begründungen für den Angriff
Wagner setzt sich in seinem Vortrag von Position 18:44 bis 23:39 mit den von Russland vorgebrachten Begründungen für den Angriffskrieg auseinander, die er „allesamt (…) für nicht schlüssig“ (04:15) hält.
Zu den Reaktionen des Westens auf Putins Angriffskrieg
Sanktionen
Ich bin der Auffassung, dass ein Angriffskrieg durchaus Folgen haben muss und dass ich mich auch mit Sanktionen (…) abfinden könnte, wenn sie gezielt Oligarchen treffen. Jetzt wissen wir leider (…) aus der Sanktionsforschung, dass es sehr schwierig ist, diese sogenannten gezielten Sanktionen durchzuführen. Sie gehen meistens zum Schaden der Bevölkerung. Aus der Sanktionsforschung wissen wir auch, dass Sanktionen, die zum Schaden der Bevölkerung gehen, (…) meistens zu Solidarisierungseffekten (…) führen.
Mein Hauptproblem ist aber die ganze Rhetorik, mit der diese Sanktionen gerade verpackt werden: Wenn zum Beispiel von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin sagt, man werde „Russland in den Ruin treiben“, dann ist man da auf einer sehr grundsätzlichen konfrontativen Haltung, die weit über das hinausgeht, was eigentlich nur um die Ukraine (…) geht, sondern [es ist] eine grundsätzliche Auseinandersetzung, die womöglich auf einen Regime-Change über Sanktionen hinausgehen sollte und das halte ich tatsächlich für hochgradig gefährlich. (…) (ab 24:00)
Waffenlieferungen
Die zweite wichtige Dimension sind die Waffenlieferungen. (…) Ich halte diese Waffenlieferungen für absolut fatal.
Erstens ist es recht offensichtlich, dass die NATO zwar offiziell sagt, sie möchte in den Krieg nicht eingreifen, mit diesen Waffenlieferungen aber de facto Kriegspartei wird mit einem immensen Eskalationspotenzial: Wir sprechen immer noch über ein Land mit Atomwaffen.
Das zweite ist: Es ist relativ offensichtlich, dass Russland unmittelbar keinen schnellen Sieg davontragen wird, aber aus meiner Warte wie ich den Kriegsverlauf zumindest lese sich durchaus für ein skaliertes Vorgehen entschieden hatte und jetzt aber sukzessive, je länger sich der Krieg hinzieht, (…) auf immer drastischere Maßnahmen (…) [zurückgreift] .
Das heißt: Diese Waffen treiben den Blutzoll in der Ukraine selber massiv nach oben und verhindern (…) sogar zum Teil aus meiner Sicht diplomatische Bemühungen zu einer Beilegung. (…) (ab 25:08)
Über Johannes Varwick: „Bis kürzlich eigentlich immer sehr sehr russlandkritisch und jetzt aber in der Frage der Waffenlieferungen [wird er] gerade von Hardlinern massiv angegriffen für seine Position.“ (ab 26:35)
Man muss glaube ich auch noch bedenken, dass in der Ukraine sich eine ganze Reihe von Männern, nämlich die zwischen 17 und 60, diesem Krieg auch gar nicht widersetzen oder entziehen können. (ab 27:56) (…)
Die Waffenlieferungen haben (…) dazu geführt, dass gewisse Annäherungen in den Verhandlungen, die von ukrainischer Seite und russischer Seite aus festzustellen waren, (…) zunehmend (…) wieder vom Tisch kommen und (…) eine Verstetigung des Konfliktes eintritt, der glaube ich (…) inzwischen auch als Stellvertreterkrieg zwischen NATO und Russland (…) zu bezeichnen ist. (ab 28:36)
In dem Zusammenhang hat mich sehr schockiert ein Bericht in der Washington Post am 5. April, demzufolge unter Berufung auf hohe NATO-Quellen angegeben worden sei, man habe gar kein Interesse, dass es zu einem Waffenstillstandsabkommen zwischen der Ukraine und Russland kommt, in jedem Fall werde man von NATO-Seite aus keinerlei Angebote machen, um einen solchen Waffenstillstand zu befördern. (ab 29:01)
(Das Transkript des Vortrags des US-Politologen John Mearsheimer, dem das vorstehende Zitat entnommen ist, findet sich in dem Bericht „… im Grunde ein Krieg zwischen den USA und Russland“ auf Telepolis.)
Zu weitergehenden Fragen betreffend das Verhältnis NATO-Russland
Forderungen Russlands
Geplante Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen
2019 wurde der sogenannte INF-Vertrag, der ein Verbot von landgestützen Kurz- und Mittelstreckenraketen zwischen 500 und 5.500 km vorsah, von den USA aufgekündigt.
Wagner: „Es ist relativ klar, dass sofort mit der Aufkündigung dieses Vertrages die USA angefangen haben, genau solche Raketen zu entwickeln, vermutlich schon vorher damit angefangen hatten, und wir jetzt in den Wochen und Monaten vor Eskalation des Ukraine-Krieges einige ganz wichtige Entwicklungen hatten.“ (ab 30:49)
Die erste Entwicklung ist zu sehen links oben in diesem Bild: Die Aktivierung der Multi-Domain-Task-Force in Wiesbaden am 16. September 2021. Das sind Einheiten, die von den USA recht neu konzipiert worden sind, um explizit „in Auseinandersetzungen“ wie es im Militärsprech heißt „mit annähernd gleichrangigen Gegnern“, also Russland und China, obsiegen zu können.
Es gibt eine Test-Einheit dieser Multi-Domain-Task-Forces, die im Schema hier zu sehen ist, und wenn man sich anschaut, was hier rot [umrandet] ist (…), dann sieht man, dass diesen Multi-Domain-Task-Forces drei Kurz- und Mittelstreckenraketen zugeordnet sind, die sind integrale Bestandteile dieser neuen Einheiten.
HIMARS ist ein Abschussystem mit einer Reichweite über 500 Kilometer, soll zulaufen 2025, die Mid-Range Capability mit einer Reichweite zwischen 500 und 1.500 Kilometer soll 2023 zulaufen und vor allem Gegenstand der Auseinandersetzungen ist die Long-Range Hypersonic Weapon, also eine Hyperschallwaffe, die sogenannte „Dark Eagle“, die mit Überschallgeschwindigkeit und einer Reichweite von 2.700 Kilometern im Prototyp ab 2023 zur Verfügung stehen soll. (ab 34:11)
Das ändert, wenn es kommen sollte (…) die strategische Balance insgesamt grundlegend, weil diese Raketen, vor allem die Hyperschallwaffe, russische Kommandozentralen etc. erreichen [können], während das umgekehrt für russische Kurz- und Mittelstreckenraketen für die USA nicht gilt. (ab 35:36)
Am 8. November [2021] wurde dann das 56. Artilleriekommando der USA reaktiviert. (…) Was ein sehr symbolisches Zeichen auch war: Dieses Artilleriekommando war seinerzeit während der Nachrüstung für das Kommando der Pershing II zuständig und ist jetzt ebenfalls in Wiesbaden reaktiviert worden, was von russischer Seite aus als ein klares Zeichen gewertet wurde, dass es die Absicht gibt, Kurz- und Mittelstreckenraketen entweder in Deutschland oder weiter in Osteuropa und möglicherweise in der Ukraine stationieren zu wollen. (ab 35:55)
Ich glaube, (…) eine Lösung für den Konflikt wird man nur finden, wenn man diese beiden Entwicklungen (…), die NATO-Truppenstationierung und die Frage der Kurz- und Mittelstreckenraketen, (…) in ein Verhandlungspaket mit hinein nimmt. (ab 36:37) (…)
Zum Bundeswehrhaushalt in Deutschland
Der Bundeswehrhaushalt ist von 23,8 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 50,33 Milliarden im Jahr 2022 auf das 2,11-fache angestiegen.
Wenn der deutsche Militärhaushalt in Zukunft mindestens 2 % des Bruttoinlandsprodukts umfassen soll, wären das (Prognose IWF) für das Jahr 2022 74,1 Milliarden Euro.
Das geplante Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll in den kommenden Jahren die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Militärhaushalt – in der aktuellen Planung soll er auf 50,1 Milliarden bis 2026 eingefroren werden – und den 2 % des Bruttoinlandsprodukts ausgleichen.
Das Sondervermögen muss aus Sicht der Regierung im Grundgesetz verankert werden, weil es sonst nicht gerichtsfest gegen die schwarze Null, die ebenfalls im Grundgesetz steht, Bestand haben würde.
Die CDU fordert eine Festlegung im Gesetz des Sondervermögens, dass in Zukunft nie wieder weniger als 2 % des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben wird.
Wagner: „Das wäre (…), wenn sich die CDU da durchsetzen kann, eine grundgesetzliche Festschreibung auf diese immense Höhe, die allen späteren Regierungen (…) die Hände massiv binden würde, überhaupt noch einmal zu einer Reduzierung der Militärausgaben zu kommen. Das halte ich für eine wirklich dramatische Entwicklung, falls es so kommen würde.“
Was mit 100 Milliarden Euro möglich wäre
Mit 100 Milliarden Euro könnten alle genannten Verbesserungen gleichzeitig bewirkt werden.
Verhältnis der Militärausgaben NATO/Russland
Nach den Zahlen des Referenten gab die NATO 2021 1.174 Milliarden Dollar für ihr Militär aus, Russland 62 Milliarden Dollar.
Das Verhältnis der Militärausgaben NATO und Russland belief sich auf etwa 19:1.
Wagner dazu: „Ich persönlich sehe überhaupt nicht, welchen Unterschied es dann machen sollte, (…) wenn dieses Verhältnis sich auf 22 oder 25 zu 1 beläuft.“ (ab 44:31)
Diskussion
Nachfolgend sind einzelne Aussagen des Referenten im Rahmen der Diskussion, die sich dem Vortrag anschloss, wiedergegeben.
„Die NATO hätte mehrere Möglichkeiten gehabt, aus dem konfrontativen Verhältnis oder der Entwicklung auszusteigen. Aus meiner Sicht hat Russland scharf aber bis 2022 reagiert. Und das war der Zeitraum (…), [in dem] es extrem viele Möglichkeiten gegeben hätte und man war offensichtlich auf dem Standpunkt, dass russische Bedenken, Sicherheitsinteressen etc. pp. in keinster Weise zu respektieren, berücksichtigen, außerhalb von irgendwelchen Floskeln zu integrieren wären. Das heißt: Im Vorfeld hätte es Möglichkeiten gegeben. (…)“ (ab 55:10)
„Nicht Appeasement hat uns in diese Situation gebracht, sondern eine Macht- und Eskalationspolitik. Und nicht umgekehrt, wie uns gerade Glauben gemacht wird. Und auch die NATO hatte nicht von Anfang an recht sondern sie lag von Anfang an falsch und hat diese Situation mit verursacht.“ (ab 55:54)
„Ich bitte Sie alle, den Blick (…) zu richten auf die Frage – und die wird wahrscheinlich ab nächstem Jahr spätestens kommen – der Kurz- und Mittelstreckenraketen, weil das aus russischer Sicht ein enormer Gamechanger sein wird, der eigentlich prädestiniert ist für einen Präventivangriff, das heißt, man muss (…) dringend über eine Neuauflage eines INF-Vertrages (…) sprechen und ich glaube, dass im Augenblick ein Stück weit die Idee ist, Russland (…) massiv zu schwächen und zu schädigen bis zum bitteren Ende und die Ukraine so weit wie möglich und so lang wie möglich aufzurüsten.“ (ab 56:31)
„Es gibt parallel dazu gerade eine ganze Reihe von Aspekten, die von russischer Seite aus thematisiert werden, die ich durchaus für nachvollziehbar halte, was elementare russische Sicherheitsinteressen anbelangt. Und mein Vorschlag wäre, (…) diese zu adressieren und in sinnvolle vertrauensbildende Maßnahmen versuchen zu überführen etc.“ (ab 1:01:21)